Autor: The Dividend Post (Clemens)
13 Juli 2025
Lieber Christian, Servus und herzlich Willkommen zum Dividend Post Interview! Beginnen wir am Startpunkt Deiner Investorenreise: Wie bist Du zur Börse gekommen?
Christian Hinterwallner: Mit Wertpapieren in Berührung kam ich erstmals während meiner Schulzeit in der Handelsakademie in St. Pölten im Zuge eines Börsenspiels. Das war in der euphorischen Zeit des Neuen Marktes der späten 90er Jahre. Von da an packte mich die Faszination Börse. Nachdem ich mit 18 Jahren mein eigenes Depot eröffnete, begann ich mit Einzelwerten zu „experimentieren“.
Kannst Du Dich auch noch an Dein erstes „Experiment“ erinnern?
Das Unternehmen hieß – und heißt meines Wissens auch heute noch – „United Labels“. Die besaßen damals Lizenzen von Walt Disney und vermarkteten damit Merchandise-Artikel der bekannten Filmfiguren. Obwohl die Firma das Platzen der „New-Economy“-Blase schließlich überleben sollte, zahlte ich ordentliches Lehrgeld. Aus dieser persönlich empfundenen Niederlage wuchs die Entscheidung in mir heran, dass ich die Gründe für dieses am Ende doch fehlgeschlagene Investment besser verstehen wollte. Immerhin war ein beträchtlicher Anteil meines ersparten Geldes plötzlich futsch. Daher fiel die Entscheidung gegen ein Lehramtstudium mit den Schwerpunkten Geschichte und Sport zugunsten von Betriebswirtschaft mit der Vertiefung Finanzmärkte an der WU Wien.
Gab es damals jemanden in Deinem Umfeld, der Dein Interesse für die Börse und das Investieren in Aktien mit Dir teilte?
Nein, mein Weg an die Börse war rein intrinsisch. Meine Eltern hatten keinen Berührungspunkt in diese Richtung. In diesem Sinne nahm ich innerhalb der Familie eine Pionierrolle an.
Wie ging es nach Deinem Studium weiter?
Nach Abschluss meines Studiums stand u.a. ein Wechsel nach London zu Lehman Brothers kurz im Raum. Der Kelch ist an mir vorüber gegangen. Letztendlich heuerte ich bei dem Vorgängerinstitut der heutigen Raiffeisen Bank International in der Aktienmarktanalyse an.
Das für beinahe zwei Jahrzehnte. Welche Erinnerungen verbindest Du mit Deinem alten Job?
Diese Frage beschäftigte mich im Zuge meiner Lösungs- oder Cooling-off Phase, in der ich mich intensiv mit den Erfahrungen auseinandersetzte. Neben vielen Freundschaften waren diese fast zwanzig Jahre von einem enormen Wachstum in meinen verschiedenen Rollen im Beruf geprägt. Aus dem Maschinenraum und viel Zeit vor dem Bloomberg-Terminal erlebte ich markante Ereignisse und sehr unterschiedliche Marktphasen. Zunächst herrschte eine unglaubliche Goldgräber-Stimmung im Jahr 2005 vor. Was wir nicht wissen konnten, waren es doch die letzten guten Jahre am Wiener Börsenplatz, die von großer Osteuropa-Euphorie geprägt waren. Für mich habe ich die Zeit immer so zusammengefasst: Die einen hatten „Mehr-Mehr“ bekommen und die anderen „weniger Mehr“. Am Ende des Jahres sind alle gewachsen. Die Finanzkrise ab 2008 war selbstredend für die gesamte Finanzbranche ein einschneidendes Ereignis. Es herrschte Panik im Markt, die Kernschmelze wäre uns bald bevorgestanden. Die Stimmung im Finanzsektor war lange mies, ohne einen Funken an Zuversicht. In Euroraum kam bald die Staatsschuldenkrise in den Südstaaten der EU dazu. In dieser Phase lernte ich ein tiefes Verständnis für die Mechanismen und das Sentiment im Markt. Seitdem spielen die Erkenntnisse von Behavioral Finance eine tragende Rolle in meinen Überlegungen. Zu guter Letzt war die Coronapandemie eine Zäsur. Die wilden Swings sorgten zum Teil für fliegende Tastaturen im Handelsraum. Am Ende des Handelstages konnte man förmlich das viele Adrenalin spüren. Auch das waren sehr einprägsame Momente.
Im Jahr 2024 hast Du Dich selbstständig gemacht. Was machst Du heute?
Nach fast 20 Jahren als Teil der Finanzindustrie, in denen ich unterschiedliche Rollen vom Aktienmarktstrategen, über den Vertrieb von Investmentzertifikaten bis zur Führungskraft eines Analystenteams durchlaufen konnte, sehnte ich mich nach einem neuen Abenteuer. Meine Mission in der Bank war erfüllt und abgeschlossen. Mit Mitte 40 habe ich genügend Erfahrungen für den Schritt in die Selbstständigkeit gemacht. Im Kern dreht sich meine Leistung als Unternehmensberater rund um die Themen Organisationsentwicklung und die Begleitung von Change-Prozessen. In der Bank leitete ich selbst als Führungskraft mehrere Transformationsprozesse. Aus diesen Praxiserfahrungen berate ich meine Kunden bei unternehmensinternen Veränderungen, wobei ich nicht ein Musterkonzept „verkaufe“, sondern versuche tief in die Organisation hineinzugehen. Es klingt vielleicht abgedroschen, jedoch fokussiere ich mich auf die individuellen Herausforderungen des Unternehmens. Zu Beginn sind Gespräche notwendig, um ein Gefühl für die Kultur innerhalb einer Organisation zu gewinnen und mir ein Verständnis über den Ist-Status zu verschaffen. In weiterer Folge hilft mir meine ausgeprägte Intuition und ein breites Methodenset, das tiefgreifende Veränderungen und Verbesserungen ermöglicht.
Einer meiner Schwerpunkte ist das Thema Lebendigkeit in Unternehmen. Dabei ist das Ziel, Muster zu identifizieren und transformieren, welche eine Organisation in ihrem vollen Potenzial bremsen. Dabei unterstützt mich mein systemischer Blick auf eine Organisation, die meinem Verständnis nach kollektives Gebilde darstellt, in der sich über die Jahre oder meistens Jahrzehnte bestimmte Verhaltensweisen etablierten. Dabei setze ich bei den „Bad Habits“ als Ursache an. Für Gefälligkeits- oder Schönwetteranalysen bin ich der falsche Ansprechpartner. In meiner Tätigkeit gehe ich ans Eingemachte und scheue nicht davor zurück in die Problemzone vorzudringen, wo der Frust verortet ist und meistens in den ersten Gesprächen schon sichtbar wird. Nur mit positivem Denken lassen sich destruktive Muster schwer ändern. Ich bin also Ansprechpartner für Kunden, die wirklich etwas verbessern und die Probleme an der Ursache lösen wollen.
Das Warum bzw. der Purpose einer Organisation ist ebenfalls essenziell für ein aufblühendes Unternehmen und begründet sich nicht bloß aus dem wirtschaftlichen Erfolg, sondern stellt ein verbindendes Element zwischen dem Unternehmen und den Mitarbeitern dar. An diesem Punkt kann das Management ansetzen, um Klarheit zu liefern, was denn eigentlich die Identität und das Selbstverständnis der Organisation ausmacht bzw. wohin sie sich entwickeln möchte.
Im Coaching ist ein Fokus authentische Führung. Hier begleite ich Unternehmer:innen und Führungskräfte in Ihr volles Potenzial und Ihre volle Wirksamkeit. Es geht mir dabei auch darum die Führungsskills meiner Kund:innen strukturell auf ein neues Level zu heben.
Welche Tools oder Fähigkeiten siehst Du als relevant für Dein heutiges Engagement? Gibt es Parallelen zu Deinen früheren Berufsrollen?
Neben dem breiten Erfahrungswissen sind es meine systemischen Ausbildungen und meine Gabe einer ausgeprägten Intuition, die die Beraterbasis darstellen. Zudem zehre ich vor allem von der analytischen, strukturierten Herangehensweise, die ich bei jedem neuen Projekt anwende. Durch die Erfahrung von vielen Analysen unterschiedlichster Geschäftsmodelle auf der Mikroebene kann ich mich extrem schnell in Geschäftsmodelle reinversetzen und das Wesentliche begreifen. Aber auch die volks- und finanzwirtschaftlichen Zusammenhänge sowie die Kenntnisse über die Marktpsychologie kann ich gut in mein jetziges Engagement integrieren. Ich durfte viel Wissen aus den unterschiedlichsten Rollen und Aufgabengebieten ziehen: Einzelaktien- und Gesamtmarktanalyse, Asset Allocation bzw. Portfoliomanagement, Vertrieb von strukturierten Produkten im Raiffeisensektor sowie zuletzt die Leitung der Equity Research Abteilung. Ich versuche die Skills und Erfahrungen zwischen ehemaligem Corporate-Job und Selbstständigkeit zu verbinden.
Kommen wir zurück zum Investieren. Wie würdest Du Deinen Investmentansatz beschreiben?
It’s me 😊 Natürlich geprägt durch meine heuristischen Erfahrungen und den gewonnenen Erkenntnissen aus knapp 25 Jahren Marktanalyse. Aus dem Value-Investing kommend, fand ich im antizyklischen Investieren basierend auf der Konjunkturzyklustheorie eine große Inspiration. Durch die vielen Krisen, die ich miterlebte, ist mir klar geworden, dass es sowohl nach oben wie nach unten massive Übertreibungen in den Märkten gibt. Wenn die Stimmung schlecht ist, die Investoren massiv unterpositioniert sowie die Bewertungen niedrig sind und so gut wie alle Konjunkturindikatoren tiefstehen – das sind die Momente, die ich liebe! Als „Contrarian“ glaube ich an wiederkehrende Zyklen. Gleichzeitig bezeichne ich mich als Pragmatiker. Überbewertungen können weitaus länger anhalten als gedacht, auch wenn unterschiedliche Indikatoren auf eine baldige Korrektur oder auf einen Aufschwung hinweisen sollten. Wann dies tatsächlich der Fall ist, kann niemand auf den Zeitpunkt genau vorhersagen. Als pragmatischer Investor betrachte ich den Aktienmarkt als eine Reflexion der wirtschaftlichen Entwicklung und Gesundheit der zugrundeliegenden Unternehmerlandschaft. Das Gewinnwachstum und die Aktienkursanstiege gehen langfristig mit der Gesamtwirtschaft einher. Das sind kommunizierende Gefäße, die nach Phasen der Übertreibung durch Korrekturen langfristig wieder in Balance gebracht werden. Beim Investieren sollte man einen langen Atem mitbringen, wobei ich bei massiven Übertreibungen nicht davor zurückschrecke mich auch von einem qualitativ einwandfreien Unternehmen zu trennen. Das Sitzfleisch habe ich, um auf eine Phase günstigerer Bewertungen zu warten und dann abermals bei diesem Unternehmen einzusteigen.
Apropos Anlagehorizont: Inwiefern wirkt sich Deine Herangehensweise auf die Haltedauer Deiner Investments aus? Bist Du jemand, der auf Buy-&-Hold setzt?
Tatsächlich hatte ich in den Jahren vor der Covidkrise aufgrund der damaligen Überbewertung eine Aktienquote von fast null Prozent. Das war kein Nachteil im Frühjahr 2020, als die Pandemie ausbrach und ich entsprechend aktiv wurde. Im Spätherbst 2024 begann ich meinen Aktienbestand zu liquidieren, was u.a. mit der Entscheidung zusammenhängt, eine Immobilie zu erwerben. Außerdem schichtete ich in Richtung Anleihen um. Mein individueller Investment-Ansatz begründet sich aus dem Zugang zu Daten, der investierten Zeit für die Recherche und dem erlernten Basiswissen in der Marktanalyse. Grundsätzlich gilt für Privatanleger „Zeitraum schlägt Zeitpunkt“ beim Investieren, auch wenn ich dieses Credo jetzt nicht vollumfänglich in der Praxis so umsetze.
Wenn man von oben draufschaut, wie setzt sich Dein Portfolio zusammen?
Neben breiten Aktienprodukten als Basisstruktur setze ich auf ein Portfolio aus ca. 30 Einzelwerten, wobei sich das in den letzten Monaten aufgrund des beabsichtigten Immobilienkaufs veränderte. In der Allokation drückt sich das ungefähr folgendermaßen aus: 60 % Aktien, 20 % Anleihen und jeweils 10 % Cash bzw. Gold. Den Teil in Gold halte ich als Portfoliobeimischung für „rainy days“. Sehr gering ist mein Crypto-Anteil.
Die Profis meinen, dass das Risiko vor der Rendite kommt. Wie sieht Dein Risikomanagement aus?
Einerseits bildet eine ausreichende Diversifikation den zentralen Bestandteil meines Risikomanagements. Zu wissen, dass man selbst nicht weiß, was die Zukunft bringen wird, ist eine Lehre aus der Vergangenheit. Andererseits schaue ich stark auf die Bewertungen. Es gibt einen relativ simplen Zusammenhang zwischen den aktuellen Marktbewertungen und der langfristigen Performance von Wertpapieren. Wenn du im Jahr 2000 eingestiegen bist, war aufgrund der teuren Bewertungslage klar, dass du in den nächsten zehn Jahren wohl keine Rendite erzielen wirst. Andersrum war die Lage im Jahr 2009 im Zuge der Finanzmarktkrise, wo aufgrund der günstigen Bewertungen klar zweistellige Jahresrenditen für das nächste Jahrzehnt am Aktienmarkt angezeigt waren. Bewertungen im Zusammenspiel mit dem Marktsentiment sehe ich als sehr gute Indikatoren, um allfällige Risiken zu umschiffen und die Chancen für große Einstiege zu identifizieren.
Auf welche Faktoren achtest Du bei Unternehmen, bevor sie zu einem Investment von Dir werden?
Auf Einzeltitelebene sind mitunter andere Kriterien maßgeblich als auf Ebene des Gesamtmarktes. Hier setze ich auf Unternehmen, deren Produkte oder Dienstleistungen ich verstehe und eventuell auch selbst nutze. Ich stelle mir die Frage, ob das Geschäftsmodell des Unternehmens auch noch in 10 oder 15 Jahren Bestand hat. Zudem ist es mir wichtig, zu welchem Preis das Wachstum heute bewertet ist. Ein Beispiel wäre Booking.com. Ein schlankes und kosteneffizientes Geschäftsmodell, hohe Marktanteile und tiefe Marktdurchdringung sowie aus der Kundensicht eine leicht benutzbare Plattform. Dadurch ergibt sich eine hohe Profitabilität ausgedrückt in entsprechenden Margen im Vergleich zum Mitbewerb. In den Wachstumstrends sehe ich gerne eine Stabilität. Weiters schaue ich mir das Management an. Schafft dieses es eine vernünftige, nachvollziehbare Equity-Story zu kommunizieren und welchen Track-Record erwarben sich die einzelnen Vorstandsmitglieder in der Vergangenheit…
Prinzipiell sehe ich hier also auch fundamentale Gesichtspunkte als sehr wichtig an. Bei Raiffeisen Research haben wir auch ein großes Quant-Modell implementiert, dass viele Perspektiven beinhaltet. Die sich daraus gezogenen Erkenntnisse lassen sich gut mit der qualitativen Analyse kombinieren. Einseitige Betrachtungen sind gefährlich und verleiten eventuell dazu, in sogenannte „Value-Traps“ zu investieren.
An der Börse bilden wir uns als Investoren eine bestimmte Meinung, bevor wir in Unternehmen, ETFs, Fonds, o.ä. unser sauer erarbeitetes Geld investieren. Wann hat sich Deine Meinung zu einem Investment das letzte Mal geändert?
Da halte ich es mit dem berühmten Zitat: „When the facts change, I change my mind - what do you do, Sir?”. Wenn ich merke, dass ich auf einer Position verharre, die der Markt komplett anders bewertet, stelle ich mir die Frage, ob mein Investment Case noch gilt. Bin ich nicht mehr überzeugt, ziehe ich die Reißlinie. Zuletzt verkaufte ich im Zuge der Trump-Euphorie nach der US-Wahl im November 2024 – auch vor dem Hintergrund des beabsichtigten Immobilienkaufs.
Welche Medienempfehlungen möchtest Du den Lesern mitgeben?
Ein breites Spektrum bekommt man nur durch das Lesen von verschiedenen Standpunkten. Diese können durchaus der eigenen Meinung widersprechen oder auf einzelne Punkte hinweisen, die man für sich eventuell anders bewertet. Mit Skepsis und Vorsicht betrachte ich die Untergangspropheten und Marktschreier. Viel wichtiger sind profunde Meinungen mit Substanz. Ansonsten möchte ich auf die Veröffentlichungen von Raiffeisen Research hinweisen, an denen ich selbst für viele Jahre mitwirken durfte.
Zum Schluss: Worum geht es im Leben?
Glücklich zu sein.
Christian, vielen Dank für Deine Zeit!
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Disclaimer & Transparenzhinweis:
Ein potentieller Interessenskonflikt ist aufgrund eigener Investments in den besprochenen Aktien und ETFs nicht auszuschließen. Der Kauf und Verkauf von Aktien, Aktienfonds und anderen Finanzinstrumenten kann zu Verlusten, bis hin zum Totalverlust, führen und sollte stets im Einklang mit dem eigenen Risikoappetit erfolgen. Meine auf dividendpost.net veröffentlichten Beiträge stellen keine Anlageberatung dar, sondern dienen schlichtweg der Unterhaltung und Information. Das Handeln mit Wertpapieren erfolgt auf eigene Gefahr. Ich tätige Börsengeschäfte ausschließlich als Privatanleger. Meine Einschätzungen erfolgen nach bestem Wissen und Gewissen, dafür übernehme ich keine Gewähr für Vollständigkeit, Richtigkeit und Aktualität der präsentierten und bereitgestellten Inhalte. Eigene Recherche und Due Diligence sind Schlüsselfaktoren für einen selbstbestimmten Vermögensaufbau. Unbezahlte Werbung durch Markennennung. Sämtliche von mir geäußerten Meinungen und Ansichten repräsentieren niemals die Meinungen oder Ansichten der Unternehmen, mit denen ich beruflich oder in sonstiger Verbindung stehe.